Hätte jemand mir vor einem Jahr gesagt, dass ich ersthaft darüber nachdenken werde per Anhalter zu fahren, würde ich diese Person auslachen.
Denn meine Meinung über Tramper war folgende:
Leute, die per Anhalter reisen, sind entweder
- hoffnungslose Hippies
- Menschen ohne Geld
- Menschen in einer Extremsituation
- oder risikofreudige, durchgeknallte Menschen.
Ach ja, oder aus der Sicht eines Autofahrers sind Tramper,
Kriminelle, die dich nur ausrauben und umbringen wollen.
Ich meine, muss man sich der Gefahr, die auf einen lauert, so offensichtlich begegnen und nicht lieber doch ein paar Pfennige in sein Leben und Sicherheit investieren?
Teil 1: Abenteuerlust
Die Idee
Wie kommt es nun dazu, dass ich nun in wenigen Wochen meine erste Reise per Anhalter in Finnland antreten werde?
In den letzten neun Monaten in Finnland habe ich reichlich gelernt. Viel ausprobiert. Oft über meinen Schatten gesprungen. Ich bin schon vorher viel gereist und habe in Ausland gelebt, aber die Zeit in Finnland löste etwas in mir aus, was ich vorher nicht kannte.
Ich wollte mehr leben und erleben.
Das Leben findet nicht jeden Tag teilweise zehn Stunden hinter Laptop und neun Büchern in der Bibliothek statt, so wie drei Jahre zuvor in Berlin. (Nichts für ungut, ich liebe mein Studium und werde es auch nach Finnland weiterhin ehrgeizig weiterverfolgen, nur auf eine andere Art als vorher).
Die Auszeit in Finnland nutzte ich dazu Finnland, aber vor allem mich selbst richtig kennenzulernen.
Das Zeit in Turku war schon besonders, aber ich wollte mehr von Finnland sehen und erleben.
Die erste Feststellung war:
Mein Ziel ist das Land, seine Menschen und seine Natur so nah wie möglich kennenlernen und das geht nicht so gut, wenn ich die ganze Zeit von anderen Reisenden, beispielsweise in Hostels, umgeben bin.
Zunächst fing es alles mit Couchsurfing an.
Ich glaubte, das finnische Leben durch meine finnische Mitbewohnerin und Freunde in der Uni langsam gut zu kennen. Dann fuhr ich nach Lappland (natürlich!) und war erstaunt wie unterschiedlich das Leben dort ist.
Wenn du monatelang in einer Stadt hockst, kennst du nur die Menschen in der Stadt, die Menschen aus einem ähnlichen Umkreis (Uni, Hobbys, etc.), die vielleicht gar nicht so unterschiedlich sind wie du. Du kennst vielleicht einen Teil vom Leben in dieser Stadt, was sich jedoch nicht immer auf das ganze Land übertragen lässt. Durch das Reisen durch das Land bekommst du einen tieferen Einblick.
Durch das Couchsurfing bekam ich einen Einblick in das Leben der Menschen in diesem Land.
Von einigen diesen Einblicken konnte ich viel lernen und mich inspirieren lassen.
So kam auch die Idee, auch das Trampen auszuprobieren und so eine Gelegenheit zu bekommen, völlig unterschiedliche Menschen zu treffen.
Ich habe in den letzten neun Monaten, Finnland und seine Menschen sehr gut kennenlernen dürfen, aber gerade weil ich sie kennengelernt habe, weiß ich wie freundlich, herzlich und ehrlich sie sind und ich mich somit noch mehr auf das Abeneteuer – per Anhalter in Finnland – freue.
Die Recherche begann.
Ich stieß auf viele Blogs und Facebookgruppen, die sich mit dem Thema Trampen beschäftigten.
- Ich traf Menschen, jung und Junggebliebene, die von ihren positiven Erfahrungen, die sie beim Trampen gesammelt haben, mit großer Begeisterung erzählten.
- Ich begegnete anderen Menschen, die per Anhalter fahren, da sie oft keine andere Wahl haben, wenn sie in einer Region mit nicht ausgebildeten Infrastruktur leben.
- Ferner stieß ich auf Menschen, die einfach nicht so viel Geld für die öffentlichen Verkehrsmittel ausgeben wollen, die für Nicht-Studenten oder Rentner in abgelegenen Gebieten, nicht ganz günstig sein können.
- Ich hörte Geschichten, wie die von einer jungen Frau, die alleine von Amsterdam zum Nordkapp getrampt ist.
Für alle, die mir davon berichteten, schien das Reisen per Anhalter in Finnland so normal zu sein. Für mich waren sie aber an erster Stelle eins: Abenteurer.
All das löste auch in mir tiefe Begeisterung aus und das Verlangen es auch endlich mal auszuprobieren.
Denn es sprechen für mich noch andere Gründe dafür:
- Meine vielen Reisen nach Lappland, gaben meinem Kontostand eine knallig rote Farbe.
- Meine Lappland Entdeckungslust ist noch lange nicht vorbei. Wird sie es jemals sein?
- Busfahren macht mich reisekrank: die meiste Zeit verbringe ich entweder komplett neben der Spur, zugedrönnt mit Reisetabletten oder total blass, mit einem Bedürfnis entweder aus dem Bus zu springen oder meinen Mageninhalt nach oben zu befördern.
Vorwärts mit einem Auto kommen, Locals kennenlernen und dabei die ganze Zeit quatschen ohne sich dabei ein Loch ins Portmonee zu reißen? Bring on hitchhiking!
Zeitlich perfekt passend erschien das E-Book von Supertramper Timo von Bruderleichtfuss „Trampen-Reisen per Anhalter“, das ich natürlich sofort kaufte und binnen einer einzigen Busfahrt verschlang.
Mit großer Spannung erzählte ich einer Freundin (die ich übrigens beim Couchsurfing kennengelernt habe), und mit der ich nun eine größere Reise in Juni plane, von meiner Idee. Mit einer gewissen Skepsis gab sie ihren Segen über mein Vorhaben.
Also steht meinem Abenteuer nichts entgegen, oder?
Teil 2: Angst
Es gibt etwas, das mit jedem Tag, an dem der 1. Juni näher rückt größer wird.
Die Angst.
Konkrete Angst, irgendwo auf der Straße stundenlang zu stehen und nicht mitgenommen zu werden.
Angst, unseren ersten Streckenabschnitt von 600 km nicht an zwei Tagen zu schaffen.
Aber auch abstrakte Angst, beispielsweise einen Verrückten zu begegnen, der uns ausraubt, vergewaltigt oder umbringt.
Oder zu einer dunklen Hütte im Wald bringt.
Oder uns an ein Bordell in Russland verkauft.
Angst, beim Schlafen im Zelt unweit der Strasse, von einem Massenmörder überrascht zu werden.
Oder von einem Bär aufgefressen zu werden.
Oder von einem durchgedrehten Rentier.
Klingt amüsant und scheint mir beim Schreiben auch so.
Oft aber, besonders abends, wird selbst die verrückteste Angst sehr real und alles andere als lustig. Horrorszenarien laufen durch meinen Kopf. Auch wenn ich weiß, dass die Wahrscheinlichkeit für all das sehr, sehr gering ist.
Nun, die Wahrscheinlichkeit für ein Flugzeugabsturz ist auch sehr gering. Wenn es jedoch passiert, tröstet es die Angehörigen und Freunde recht wenig bis gar nicht. Und, dass die Wahrscheinlichkeit gering ist, heißt es nicht, dass es nicht passieren kann.
Ein Restrisiko bleibt immer. Und ja, etwas passieren kann es mir auch in meinen eigenen vier Wänden. Ich weiß. Aber auf der Strasse meinen Daumen hochzuhalten, scheint mir das Risiko zu erhöhen.
Teil 3: Die Gefahr
So recherchierte ich und fand sehr unterschiedliche Meinungen dazu.
Einige sind nicht gerade motivierend.
Ich fand Aussagen, wie
„Als Frau per Anhalter zu fahren ist das Gleiche wie sich gleich auf die nackte Brust „vergewaltige und töte mich“ zu schreiben, es ist außerordentlich gefährlich“
Ist es wirklich so?
Ich suchte weiter und nach einigen Stunden Recherche kam ich auf ein Ergebnis.
Per Anhalter zu fahren ist gefährlich. Sehr sogar.
Grund: Dreitausenddreihundertachtundsechszig Verkehrstote 2014 alleine in Deutschland. Ja, 3368 Tote. Nicht zu sprechen von den vielfach Schwer- und Leichtverletzten.
Tja, gefährliche Sache, dieser Autoverkehr.
Verzichten wir jedoch darauf?
Nein. Es ist für uns so normal und alltäglich geworden, dass wir jeden Tag in ein Fahrzeug steigen, ohne der tatsächlichen Gefahr in das Auge zu blicken.
Ja klar, wir können nicht einschätzen, wie sicher der Fahrer beim Fahren ist.
Natürlich, aber glaubst du wirklich, dass du sehr sicher bist, wenn dein erfahrener Fahrer oder auch du, 200 km/h auf der Autobahn fliegt? Das muss nicht einmal an dem Fahrer liegen, sondern an dem Fahrzeug, dass plötzlich einen Defekt hat oder aber auch an anderen Verkehrsteilnehmer, die ohne dein Verschulden dich gefährden und töten können.
Auch bei sehr geringen Geschwindigkeiten können sehr schwere und folgenreiche Unfälle passieren, hast du jemals darüber nachgedacht?
(Auch meine Freunde haben sich schon der konkreten Gefahr ausgesetzt, indem sie mich als Fahrerin hatten. Nur weil sie mich kennen, heißt es nicht, dass ich beim nächsten Linksabbiegen, nicht einen ernsten Unfall verursachen kann.)
Aber nur weil etwas so alltäglich ist, heißt es nicht gleich, dass es ungefährlich ist.
So, nun zum Vergewaltiger und Massenmörder, der es natürlich auf Tramper, insbesondere Frauen abgesehen hat.
Eine Sache, die ich sehr traurig finde ist, dass Frauen sich oft selbst in eine Opferrolle bringen müssen. Wenn ich meinen männlichen Freunden von meinem Vorhaben erzähle, zucken sie meist nur mit der Schulter und sagen „Warum nicht? Du wirst sicherlich viel Spaß haben!“.
Frauen dagegen reagieren mit Entsetzen und Erstauen. Wie kann ich mir nur einbilden, dass so etwas sicher sein kann?
Ja, ich erhöhe das Risiko auf einem Verrückten zu treffen, in dem ich in ein fremdes Auto einsteige, natürlich mehr als wenn ich zu Hause vor meinem Laptop sitze.
(Das Risiko, dass meine Mitbewohnerin das Haus abbrennt, während ich schlafe, ist dabei aber auch nicht niedrig.)
Aber, das ist kein geschlechtsspezifisches Risiko. Auch ein Mann kann beraubt oder sexuell misshandelt werden.
Aber in dieser Situation, sich in einem fremden Auto zu befinden, indem unmittelbar keine Handgreiflichkeiten stattfinden können (da der Fahrer mit dem Fahren beschäftigt ist), zählt keine physische Stärke. Sondern psychische.
Ich hatte schon einige Situationen erlebt, in denen ich mich dank psychischer Überlegenheit aus einer misslichen Situation befreien konnte und warum sollte es sich nicht auf das Trampen übertragen lassen?
Was ich auch bedenken muss, ist, dass der Fahrer auch ein Risiko eingeht, in dem er eine fremde Person in sein Auto einsteigen lässt. Hege ich böse Absichten, ist er eindeutig in der schwächeren Position.(Was ich natürlich nie tun würde. Hier in Finnland besteht ein Grundvertrauensverhältnis der Menschen zu einander. Es zu zerstören, wäre fatal.)
Zum Thema Vergewaltigung möchte ich nur anführen, dass die meisten Täter, aus dem eigenen Umfeld kommen und nicht aus dem dunklen Park oder Wald. Nein, die meisten Vergewaltigungen passieren sogar aus einer Beziehung heraus. Ja, genau. Es ist wahrscheinlicher, dass die Person neben der du heute aufgewacht bist, dich irgendwann (während oder nach der Beziehung) vergewaltigt, als der Mann in dem fremden Auto. Oder vielleicht auch der nette Nachbar. Oder der lächelnde Supermarktverkäufer.
Und was ist mit den schwarzen Schafen unter den Menschen? Es gibt sie auch. Natürlich.
Aber auch bei Trampen kann ich einige Sicherheitsvorkehrungen treffen. Wie etwa, mir das Nummernschild zu merken, jemanden anzurufen und von meiner Fahrt zu erzählen, den suspekt verhaltenden Fahrer zu verwirren und, und, und.
Mir wurde auch die Frage gestellt, was ich mache, wenn es dunkel ist, regnet und ich einfach keine Wahl habe, als mit dem Nächsten mitzufahren.
Zunächst einmal trampe ich im Sommer nach Lappland und weiter nach Nordnorwegen. Es wird einfach nicht dunkel.
Zweitens, ich habe immer eine Wahl. Und zwar in der Form eines Zeltes, dass ich irgendwo, dank des Jedermannsrechts, aufschlagen kann. Drittens, habe ich eine Freundin dabei und wir können uns gegensätzlich bei Laune halten.
Wenn der Menschenverstand oder das Buchgefühl eine von uns, davon abhält in das Auto zu steigen, bleiben wir eben weiter stehen. Oder schlagen irgendwo das Zelt auf.
Denn das Bauchgefühl ist nie zu missachten. Nie.
Teil 4: Das Fazit
Mein Vorhaben von Finnland nach Nordnorwegen zu trampen, birgt ein Gefahrenpotenzial in sich.
Aber alltägliche Sachen tun das auch.
Trotzdem fahre ich Auto. Ich gehe auch immer noch über die Strasse, obwohl ich in Melbourne von zwei Autos beim Überqueren einer Strasse bei einer grünen Ampel, erfasst wurde. Ich steige sogar in ein Flugzeug, obwohl in der letzten 18 Monaten es zu vier großen Flugzeugunfällen gekommen ist.
Habe ich Angst? Ja, oft. Aber meistens habe ich es nicht in der Hand, ob etwas passiert oder nicht. Deswegen versuche ich aufzuhören, mir Sorgen zu machen.
Und mich stattdessen auf etwas zu konzentrieren, das beim Trampen in Finnland viel wahrscheinlicher ist: neue Erfahrungen, einzigartige Menschen, Gespräche, Eindrücke und hoffentlich viel Wissenswertes über das Land.
Ich weiß, dass die Menschen in Finnland, besonders in Lappland, zu den freundlichsten und hilfsbereitesten Menschen gehören, die ich kennenlernen durfte.
Und, falls es passieren sollten, dass ich und Anke stundenlang da stehen und nicht mitgenommen werden, dann ist es auch eine Erfahrung und Geduldsprüfung.
Als letzten Gedanken möchte ich anführen, dass die massive Angst der Menschen vor Trampen darauf beruht, dass es in unserer europäischen Gesellschaft nicht als normal und üblich angesehen wird. Die Angst vor dem Trampen beruht also mehr auf die Unbekanntheit. Je mehr ich mich damit auseinandersetze, desto weniger wird die Angst.
Was kannst du daraus lernen?
Angstbarriere fallen lassen, gesunden Menschenverstand einschalten, auf dein Bauchgefühl hören und dich rein in das Abenteuer stürzen. Alles andere liegt nicht in deiner Hand.
Teil 5: Hilfreiche Links
Mehr zum Trampen findest du hier.
Mehr zu „Als Frau trampen und Angst“ kannst du hier und hier (auf englisch)erfahren.
Eine schöne Geschichte von einer Frau in der USA, die jahrelang mit ihrem Hund per Anhalter fuhr, kannst du hier auf englisch nachlesen.
Tipps zu Trampen gibt es hier.
Und natürlich einige (von vielen) Facebookgruppen, die dir viele hilfreiche Informationen liefern, aber wo du auch offen über Ängste sprechen kannst findest du hier und hier.
Bist du schon einmal per Anhalter gefahren und kennst diese Angst? Oder hast du Angst vor etwas Anderem gehabt, die du erfolgreich überwunden hast?
Was hält dich innerlich davon zurück, heute dein Abenteuer zu starten?
Ab in die Kommentare damit!
PS: Mein durch Finnland nach Norwegen per Anhalter Abenteuer ist nun vorbei. Über meine Erfahrungen habe ich in einem Gastbeitrag berichtet.
Schaut mal vorbei!
Hey Ana,
schön reflektiert. Klar, wenn du mehr Menschen triffst, erhöhst du die Chance Verrückte zu treffen. Du erhöhst aber auch die Chance tolle, einmalige Erfahrungen zu machen und großartige, hilfsbereite Menschen kennenzulernen.
Ich bin die letzten zwei Monate über Polen, Litauen, Lettland, Estland, Finnland und Norwegen zum Nordkap getrampt und zurück über Schweden und Dänemark. Grade Jenseits des Polarkreises habe ich so tolle Roadtrip Erfahrungen gemacht, dass mir der Kopf von schönen Erinnerungen nur so schwirrt.
Liebe Grüße
Jannis
Hei Jannis,
das stimmt. Wobei zwischen den Verrückten auch unterschieden werden soll, es gibt auch auch lustige Verrückte. 😀
Das mit dem vollen Kopf kenne ich, ich möchte auch alles, was ich die letzten Wochen bzw. Monate erlebt habe, einfach aufschreiben, damit ich das für lange in Erinnerung behalten kann.
Über meine Erfahrungen beim Trampen in Norwegen und Finnland habe ich auch einen Gastbeitrag bei Timo verfasst: http://www.bruderleichtfuss.com/trampen-als-frau/.
Die Leute dort oben sind einfach anders, selbst die Leute, die dort hinreisen werden anders. Ich könnte eigentlich einen ganzen Artikel darüber schreiben, wie hilfsbereit und gechillt die Leute da sind, aber das hat noch etwas Zeit! 😉
Ich bin schon auf deinen Film über deine Erfahrungen gespannt!
Liebe Grüße,
Ana
Hey Ana,
wieder mal ein feiner Artikel von dir! Es macht wirklich Spaß, deine Gedanken zum Trampen und zur Sicherheit dabei zu lesen – vor allem ist es echt bewundernswert, dass du dich nicht vom Gequatsche der Leute beeindrucken lässt, Dinge selber ausprobierst und sie dann erst anschließend bewertest!
Dass es dir so gut gefällt, freut mich dazu natürlich ganz besonders Weiterhin viel Glück auf den Straßen der Welt – und des Nordens 😉
Timo
Hei Timo,
vielen Dank! Ich bin auch wahnsinnig froh, es ausprobiert zu haben – wer nicht wagt,der nicht gewinnt 😉
Liebe Grüße,
Ana